Magdeburger Volksstimme, 02.08.02
Vom Urlaub direkt ins olympische Dorf
von F.-René Braune
Kameramänner schultern ihre Technik, in modisches, aber bei 30
Grad im Schatten höchst schweißtreibendes Schwarz gehüllt, geben junge
Redakteurinnen Anweisungen: "Eine Totale vom Jugendklub und dann Schwenk
über die Straße." Wieder einmal finden die Gemeinden Werkleitz und Tornitz
deutschlandweite Aufmerksamkeit. Die 5. Biennale hat begonnen.
Magdeburg. Während Journalisten und Reporter an diesem heißen
Mittwochnachmittag von einem Ausstellungsort zum nächsten hetzen, haben es
sich Hellmut und Johanna Kandl in einem Zimmer des Tornitzer Heimatvereins
gemütlich gemacht. An den Wänden hängen Fotos aus aller Welt, die eines
gemeinsam haben: Es sind ausschließlich Urlaubsfotos. Der Biennale-Beitrag
des Wiener Ehepaars trägt zwar den locker-luftigen Titel "Auf der Insel
Bella Lella", hat aber durchaus ernst zu nehmende Absichten. "Wir möchten,
dass die Leute zu uns kommen und ihre Urlaubsfotos mitbringen", erlkärt
Hellmut Kandl. "Wir scannen die dann, fertigen einen großen Farbausdruck an
und verarbeiten das Ganze außerdem zu einer Art Fotoschau, die auf Monitoren
zu sehen ist."
Dahinter steckt mehr als nur eine technische Spielerei. Johanna Kandl, von
der auch Gemälde auf der Biennale zu sehen sind, offenbart mit
unverwechselbar wienerischem Sprach-Charme, dass es vor allem um
Kommunikation gehe. "Bei ähnlichen Projekten haben uns völlig fremde
Menschen ganze Lebensgeschichten erzählt. Und gibt es denn etwas
Spannenderes als das ganz normale Leben? Nichts zeigt den Alltag so genau
und teffend, wie ein privates Foto."
Hellmut und Johanna Kandl haben immer wieder die Erfahrung gemacht, dass für
viele Urlauber diese "schönste Zeit des Jahres" mehr als nur passive
Erholung ist. "Man sieht an den Fotos, wie das jeweilige Urlaubsland
empfunden wird", setzt Hellmut das Gespräch fort, ob man nur am Strand war
oder Land und Leuten näher kommen wollte. Die Fotos erzählen viel über jene,
die sie gemacht haben. Für uns ist das eine Möglichkeit, Themen wie
Fremdheit oder Nationalität zu behandeln, darüber ins Gespräch zu kommen,
Meinungen auszutauschen und sich anzunähern. Und könnten Sie bitte
schreiben, dass jeder, der zu uns kommt, seine Fotos gleich wieder mitnehmen
kann?"
"Nach Olympia" ist der Titel des Biennale-Beitrages von Wiebke Grösch und
Frank Metzger aus Frankfurt am Main. Beide sind weltweit der Frage
nachgegangen, was eigentlich aus olympischen Dörfern wird, wenn die
Medaillen verteilt und die Athleten von dannen gezogen sind.
Die Erkenntnisse sind bemerkenswert: "Für jedes olympischen Dorf, das wir
besucht haben", so Frank Metzger, ist eine Gehettoisierung typisch in die
eine oder andere Richtung. Aus dem in Grenoble wurde eine Wohnsiedlung für
sozial schwache Bevölkerungsgruppen. Das ganze Dorf war von vornherein in
seiner Konzeption auf sozialen Wohnungsbau orientiert." Wiebke Grösch ergänzt: "In Sidney war gewissermaßen das Gegenteil der Fall
hier entstand eine vornehme Siedlung mit Eigentumswohnungen, die einen
eigenen Wachdienst hat und strikten Regeln unterworfen ist."An diesem
Gesprächspunkt kann sich ihr Partner ein Schmunzeln nicht verkneifen. "An
einer Grünanlage haben wir dort ein Schild gefunden, dass die Zeiten
festlegt, in denen Basketball gespielt werden darf", erinnert er sich. "Wird
jemand außerhalb dieser zeiten erwischt, wird der Ball von den
Sicherheitskräften einkassiert." Eine besonders große Rolle spielt das Thema Sicherheit übrigens im
ehemaligen olympischen Dorf von Lake Placid es war von Anfang an als
Gefängnis geplant und wird auch so genutzt. "In Moskau", fügt Frank Metzger
noch hinzu, "waren die olympischen Unterkünfte in ihrer Nachnutzung wohl vor
allem Funktionären vorbehalten".
Alles, was die beiden in Grenoble, Berlin, Sidney, München, Innsbruck
vorgefunden haben, ist fotografisch dokumentiert und vermittelt höchst
interessante "Nach Olympia"-Eindrücke. Nach der Quintessenz ihrer Recherchen
befragt, sind sie sich schnell einig: "Der Widerspruch zwischen dem hohen
moralischen Anspruch des olympischen Gedankens und der Realität, die darauf
folgt".
Nur wenige Meter von Sidney und München entfernt, fragt uns ein junger Mann,
ob wir noch einen Moment Zeit hätten. Hans-Peter Scharlach hat ein
Zimmerchen im Jugendklub, in dem er seine Video-Installation "This Land" präsentiert. Der Recorder läuft an, eine Kamera schwenkt in Großaufnahme
über Handtücher und andere Einrichtungsgegenstände, die in jeder Wohnung zu
finden sind. Auf den ersten Blick nichts Besonderes. Bedeutung gewinnen die
Bilder, wenn man dem Lied lauscht, dass der junge Kölner dazu singt. Auf der
Gitarre begleitet er sich selbst zu Woody Guthries Folksong "This land is
your land".
Ironisch-melancholisch möchte man die Assoziationen beschreiben, die
entstehen, wenn rotbrauner Fußbodenbelag zu sehen ist und die Stimme vom
Redwoodforrest singt. Oder wenn Überputzkabel die Textstelle vom Highway
ergänzen. Eine Wohnung als Landschaft, die ein eigenes Land schafft
Ironie, Bitterkeit, Plädoyer für Identifikation oder einfach nur eine
witzige Idee?
Hans-Peter Scharlach lächelt: "Bitterkeit auf keinen Fall, sonst aber wohl
von allem etwas. Ich möchte einfach dazu anregen, mit ironischer Distanz und
Humor das eigene Umfeld zu betrachten, auch aufzuwerten und seine kleinen
Geheimnisse zu entdecken. Wie das jeder Betrachter für sich selbst wertet,
kann ich natürlich nicht beeinflussen." Das ganze Video ist nur drei Minuten lang. Beim zweiten Betrachten halt man
inne wo hab' ich das schon mal gesehen? Ach ja im Bad, zu Hause. In
meiner Landschaft.
Im Raum nebenan steht ein Monitor, davor eine hellbraune Microfaser-Couch.
Das Video startet mit Bildern wie einst die "Raumschiff Enterprise"-Serie:
Planeten, schön bunt, das All, unendliche Weite.
Gemeinsam mit der Theatergruppe des Friedrich-Schiller-Gymnasiums Calbe hat
der Berliner Medienkünstler Micz Flor einen Film über die vermeintliche
Notlandung Außerirdischer in Calbe gedreht. Der Tenor ist das Fremdsein, die
Akzeptanz, die Toleranz, das Anderssein und wie man damit umgeht. Witzige
Filmideen werden mit philantropischem Anspruch und akribischer Arbeit
kombiniert, denn die jugendlichen Schauspieler bewegen die Lippen
erstaunlich synchron zu den Original-Stimmen des Science-Fiction-Klassikers
"Alien". Das Video "Sachsen-Anhalt durch die Galaxis" könnte zur Metapher
für die 5. Werkleitz-Biennale gereichen: Fantasievoll, unkonventionell,
vielfältig und voller Unter- und Zwischentöne. Bis zum Sonntag kann man sich
davon überzeugen.
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