Tagesspiegel (Berlin), Nr. 17841, 08, S.22
Auf zum Traktorstützpunkt
"Zugewinngemeinschaft": Die fünfte Werkleitz-Biennale vereint Kunst und Film
von Katrin Wittneven
Nach über zwei Stunden verlässt der Reisebus die Autobahn und passiert kleine
Ortschaften wie Calpe und Barby - die nächstgrößere Stadt Magdeburg ist rund
vierzig Kilometer entfernt. Vorbei führt der Weg an Feldern, Baustoffhandlungen
und Wahlplakaten für die Schill-Partei, die neue Wege für Sachsen-Anhalt
verspricht. Schon ein Dorf weiter irritiert ein Plakat mit einem fröhlichen
FDJ-Mann und dem Slogan "Die DDR, das sind wir" und spätestens als an der
nächsten Laterne Willi Brandt mit "Deutsche, wir können stolz sein auf unser
Land" für die SPD wirbt, hat die Kunst die Wirklichkeit eingeholt. Für ihr
Projekt "Modell Deutschland" nämlich haben die Berliner Martin Conrath und
Marion Kreißler Reproduktionen von Wahlplakaten aus den Siebzigerjahren im
Landkreis Schönbeck aufgehängt.
Das Ziel der Bustour ist erreicht: die Werkleitz Biennale, ein fünftägiges
Medienkunst-Festival auf dem platten Land. Aus dem Shuttlebus, der täglich
zwischen Berlin und Tornitz bei Werkleitz pendelt, steigen Künstler und
Journalisten und blinzeln in der sengenden Mittagshitze. Ihre hippen Turnschuhe
und coolen Sonnenbrillen wirken hier so unpassend, dass zwei einheimische
Mädchen, die im rosa Bikini zum Baggersee gehen, beim Anblick der schwitzenden
Städter kichern müssen.
Dabei kommen seit dem Auftakt 1993 regelmäßig Filmemacher, Känstler und
Kuratoren in den idyllischen Elbe-Saale-Winkel, und die Biennale ist als größte
Veranstaltung ihrer Art in den neuen Bundesländern mit einem politischen
Programm längst zum Geheimtipp geworden. Unter dem Titel "Zugewinngemeinschaft"
haben sich in diesem Jahr zehn Kuratoren zusammengefunden und rund einhundert
Künstler und Filmemacher aus zwanzig Ländern eingeladen, die in den
Nachbardörfern Werkleitz und Tornitz ihre Werke zeigen. Die Gebäudenamen lassen
noch heute Rückschlüsse auf das dörfliche Leben in der DDR zu: Heimatverein,
Konsumgebäude, Sportlerheim, Jugendclub, Maschinen- und Traktorstützpunkt.
Daneben gibt es als zentralen Treffpunkt die Gaststätte "Zur Post", in der bis
spät in die Nacht das Filmprogramm läuft.
Offene Grenzen?
Die Vorgaben der Kuratoren waren konkret: Als "metaphorischer Bezugsrahmen"
wurde den Künstlern der Film "Whity" von Rainer Werner Fassbinder geschickt, ein
Familiendrama aus dem Jahr 1970 um den illegitimen schwarzen Sohn eines
amerikanischen Gutsbesitzers. Ein zweiter Themenstrang sind die "10.
Weltfestpiele der Jugend und Studenten", die 1973 in der DDR zur internationalen
Begegnungsstätte wurden und für den positiven Utopismus der DDR standen. Die
Fragestellung "Offene Grenzen" gaben die Kuratoren als drittes Bezugsfeld den
eingeladenen Künstlern.
Erstaunlich nah sind viele der Künstler an diesen Vorgaben geblieben. In der
Dorfkirche ist etwa eine dreiteilige Videoinstallation von Branwen Okpako zu
sehen, in der die Nigerianerin mit einem Schauspieler zu sehen ist, während sie
gemeinsam den Film "Whity" ansehen. Die Belgierin Manon de Boer schickte Bücher
von Fassbinder oder der Black-Panther-Aktivistin Angela Davis, von der es ein
Foto mit Erich Honecker auf den zehnten Weltfestpielen gibt, an verschiedene
Personen, die bei der Lektüre wichtige Textstellen gekennzeichnet haben. Der
1983 geborene Niederländer Janko Vook entwickelte das Computerspiel "Whity
Ego-Shooter", in dem der Spieler selbst zum Vollstrecker in der Schlussszene des
Films wird.
Gleiten manche der Werke ins Illustrative ab, wie etwa die per Video
aufgezeichnete Befragung von Asylbewerbern nach ihrer Lebenssituation,
überzeugen vor allem Arbeiten, die Themen wie Utopie und Wirklichkeit breiter
angehen. Das Frankfurter Duo Wiebke Grösch und Frank Metzger dokumentiert das
Phänomen der Olympischen Dörfer, und stellt der offiziellen Darstellung der IOC
die vielfach trostlose Wohnsituation heutiger Bewohner gegenüber. In einem von
vier Containern, die wie Fremdkörper auf einem Feld stehen, kombiniert die
indische Videokünstlerin Madhusree Dutta Impressionen einer Autofahrt durch
Bombay mit Information zur dortigen Stadtentwicklung.
Techniken der Recherche und der Dokumentation dominieren auch im Filmprogramm,
zu dessen Auftakt Ausschnitte aus Dorothee Wenners Projekt "Unser Ausland" gezeigt wurden. Die Berliner Filmemacherin hat zehn in Deutschland lebende
"Ausländer" gebeten, als Experten ein deutsches Phänomen zu kommentieren. Da
referiert der indische Innenarchitekt Jehangir Modi über deutsche Gemütlichkeit
oder der russische Schriftsteller Wladimir Kaminer erläutert, warum deutsche
Männer so gerne russische Frauen "retten". Selbst wenn dies ab Mitte August
auch
in Berlin zu sehen sein wird, lohnt schon jetzt der Sommertrip in die deutsche
Ostprärie Zugewinn garantiert.
5. Werkleitz-Biennale. Bis 4. August, täglicher Busshuttle von Berlin nach
Werkleitz (10 Euro), Weitere Informationen unter www.werkleitz.de
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