Portal Kunstgeschichte (www.portalkunstgeschichte.de), 29.08.02
"Zugewinn" für Kunst- und Kulturlandschaft in Deutschland
von Mandy Hasenfuß
Sie fragen sich, welchen "Zugewinn" die Kunstlandschaft in Deutschlands Ausstellungsalltag
haben kann?
Gibt es denn derzeit noch etwas außer D11, das neue Phänomene in den pulsierenden Alltag
zwischen Kunst und Kommerz, zwischen Ausstellungsvielfalt und Besucherstatistik, zwischen
Sommerloch und "kunstherbst" aufzeigen kann ? Etwas Neues? Etwas Kritisches vielleicht
sogar?
Aber ja! Es gibt etwas, oder besser: es gab etwas. Dieses Etwas war die 5. Werkleitz-Biennale in
Sachsen-Anhalt. Die sonst so stillen Dörfer Werkleitz und Tornitz (Elbe/Saale-Winkel), eine
Autostunde von Magdeburg entfernt, wurden in den Tagen vom 31. Juli bis 4. August 2002 zu
einem Mekka für Künstler und Kunstinteressierte. 100 Kreative zeigten auf dem inzwischen
"Documenta des Ostens" genannten Festival ihre Kunst; Motto der Veranstaltung diesmal:
"Zugewinngemeinschaft". Hinter dem Titel verbarg sich eine politisch-orientierte Problematik.
Das Konzept der politischen Medienkunst in Werkleitz und Tornitz setzte sich mit
gesellschaftlichen Umständen, in denen jeder einzelne von uns lebt, auseinander.
Konfliktsituationen, Konfliktthemen sollten zur Anschauung gebracht werden. Speziell ging das
Kuratoren-Team, bestehend aus insgesamt 12 KünstlerInnen und VermittlerInnen, auf soziale
Differenzen ein, die sich innerhalb einer Gemeinschaft herausbilden bzw. über einen längeren
Zeitraum fest verankert sind. Die "Macher" der Biennale fragten sich unter anderem, und damit
griffen sie tief auf den Grund des "Fasses" der Sozialgeschichte unserer Gesellschaft, woher
die hierarchisch organisierten, fest etablierten gesellschaftlichen Positionen kommen. Aber
auch: Korrespondieren diese Positionen mit politischen und ökonomischen Interessen einer
neoliberalen Politik? Alle Beiträge des Medienkunstfestivals vereinigte ein Ziel: die Kritik an
einer Gesellschaft, die sich in erster Linie danach orientiert, ob sich ein Gewinn, auf welche Art
auch immer, erzielen läßt. Die Kritik an einer "Zugewinngemeinschaft" also. Man hatte es Ende
Juli/Anfang August mit politischer Kunst zu tun, die eindeutig darauf abzielte "Staatsarchitektur,
Kulturkonstrukte, kapitalistische Ökonomie und Begehren als teils widersprüchliche, teils
einander verstärkende gesellschaftliche Kräfte in (einer) Politik der Differenz" zu zeigen. Das
war ein hoher Anspruch und man konnte vor Ort feststellen, dass nicht jeder Beitrag dem
übergeordneten Motto gerecht werden konnte. Die wohldurchdachte und überaus aktuelle
theoretische Konzeption war in der praktischen Umsetzung oftmals nicht eindeutig genug. Der
nicht vorbereitete Besucher und Betrachter der etwa 30 Beiträge, darunter Multimedia- und
Videoinstallationen, Fotografie, Plastik, Malerei und anderer Events, hatte durchaus sein Tun, um
hinter die konzeptionell-gedanklichen Vorgaben zu kommen. Eine vorherige
Auseinandersetzung mit den Themen der Biennale war hier unbedingt erforderlich. Abzusehen
war im Vorfeld vielleicht bereits, dass das Festival "das Fachpublikum stets mehr befriedigen
(würde) als den beiläufigen Gast." (Mitteldeutsche Zeitung vom 01.08.2002)
Das große Oberthema "Zugewinngemeinschaft" hatte Unterpunkte bekommen, die wie ein
greifbarer Rahmen als Anhaltspunkte fungierten. Diese Rahmenpunkte wurden
"Gegenstände" genannt. Ein erster Gegenstand beschäftigte sich mit dem Film "Whity" von
Rainer Werner Fassbinder (BRD, 1970, 95 min.) Der spektakulärste und bei weitem
emotionalste Beitrag hängt mit diesem Gegenstand zusammen. Branwen Okpako hatte im relativ
klein bemessenen Kirchenraum der Tornitzer Kirche eine Art überdimensionierten Triptychon
aufgestellt; die Videoinstallation zeigte auf der Mitteltafel Filmausschnitte aus "Whity" und
bannte durch den ungewohnten Kontext sofort jeden Besucher. Die Seitentafeln der Installation
verdeutlichten den abgesteckten Rahmen auf eine andere Art. Sie zielten darauf ab, einen Bezug
zur Gegenwart herzustellen, was auch durchaus gelang. Zwei auf einem Sofa sitzende und dabei
gefilmte Menschen unterhielten sich verhalten über die zu sehenden Szenen im Mittelteil. Jeder
der beiden wurde auf jeweils einem Seitenkompartiment gezeigt. Sie saßen sich also plötzlich
gegenüber. Das spannende und zugleich dramatische daran: Die sich Unterhaltenden waren, so
wie Whity im Film, Farbige.
Zu einem zweiten Gegenstand wurden die "10. Weltfestspiele der Jugend und Studenten in
Berlin", die im Jahre 1973 in Ostberlin stattfanden. Das staatlich organisierte Festival erfreute
sich zu DDR-Zeiten großer Beliebtheit. Die Demonstration von gelebtem Internationalismus,
der in der Realität nicht ganz so überschwenglich ausgelebt werden konnte, verfolgte natürlich
politische Ziele. Doch die Zeit, in der die Festspiele und die Regiearbeit Fassbinders stattfinden
bzw. entstehen konnten - und das ist der Verknüpfungspunkt zwischen den beiden ersten
Gegenständen - gilt heute als in einiger Hinsicht gesellschaftspolitisch vorbildlich. Hans-
Joachim Werner zeigte in der Sporthalle in Gemeinde Werkleitz den Videoloop zum zweiten
Gegenstand (siehe Abbildung). Die vollkommen unscheinbare Darstellungsweise - ein
Fernsehapparat mit 2 Stühlen davor - wirkte ungewöhnlich. Mit einem nur flüchtigen Blick
hätte man die "Vorstellung" leicht verpassen können. Aber vielleicht war dem Künstler gerade
die Unscheinbarkeit seiner Arbeit wichtig, denn eine ausführliche Beschäftigung, zumindest ein
Eingehen auf die Problematik, muss der Künstler vom Betrachter verlangen können. Die
bunten Szenen des Loops bildeten zudem einen effektreichen Gegensatz zur Schlichtheit der
DDR-Dorf-Turnhalle, von der Besucher aus den alten Bundesländern, wie ich bei Tisch erfahren
konnte, schwärmten. So etwas gäbe es "drüben" nicht.
An ganz konkrete politische Dimensionen und gesellschaftliche Umstände ließ der dritte
Bezugs- und Rahmenpunkt denken, der sich die Frage nach der "Offenen Grenze" stellte.
Angespielt wurde damit auf die Grenze zwischen Deutschen` und ImmigrantInnen, die sich
entlang von Hautfarbe, nationaler Zugehörigkeit, Sprache sowie Besitz- und
Beschäftigungsstand bewegt. Aber auch die seit dem 11. September 2001 aufgekommene Anti-
Islamismus-Tendenz oder auch der Wahlkampf zur Bundestagswahl 2002 bzw. die speziell in
Sachsen-Anhalts Landkreis Schönebeck stattfindende Landratswahl im August 2002 wurden
thematisiert. Martin Conrath und Marion Kreißler hatten mit ca. 100 Wahlplakaten
(Reproduktionen aus den 70`er Jahren) Teile der Dorfstraßen in den beiden Orten benutzt, um
mit ihrem "Modell Deutschland" Wahlkampfversprechen an dem zu messen, was sich heute
als Realität des Versprochenen zeigt. Dabei wurden sowohl Plakate aus dem DDR-
"Wahlkampf" als auch aus dem der Bundesrepublik präsentiert.
Die Künstlerinnen Helga Liesner und Isabell Scheel hatten in einem Raum des Heimatvereins
der Gemeinde Tornitz eine Installation mit dem Titel "Wir waren die ersten" aufgestellt. Unter
sechs alten Trockenhauben der Friseurbrance, konnte man den auf Tonband festgehaltenen
Stimmen deutsch-türkischer Mitbürger lauschen, die sich mit ihrer Integrationen in die deutsche
Gesellschaft beschäftigten. Der Blick des Trockenhauben-Hörers blieb dabei an einem vor ihm
befindlichen Bild gefesselt hängen, das den Erzähler darstellte (siehe Abbildung).
Die hier angesprochenen Beiträge bildeten nur einen Bruchteil dessen, was auf der Biennale zu
sehen gewesen war. Die Präsentationen der über 40 internationalen Künstler waren von einer
unglaublichen Vielfältigkeit. Die Stärke dessen, was gezeigt wurde, lag eindeutig darin
begründet. Der Kunstinteressierte hatte die Wahl. Dabei half ihm, und das ist durchaus positiv
zu bewerten, ein sorgfältig ausgeklügeltes und nach verschiedenen Kriterien aufgestelltes
Programmheft. Einmal im Besitz des Programmhefts gekommen, gelang es (fast) jedem die
Örtlichkeiten innerhalb des Ausstellungsparcours zu finden. Zusätzlich konnte man sich über
Flyer informieren.
Eine Videodokumentation über die 5. Werkleitz-Biennale wird ab Oktober 2002 bei der
Werkleitz-Gesellschaft erhältlich sein.
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