Kreuzer (Leipzig), 08.02, S.41

Schneewittchen in der Kita

Die fünfte Werkleitz-Biennale setzt sich mit sozialer Ausgrenzung auseinander

von Sandra Rendger

Nicht weit von Magdeburg liegt die Gemeinde Tornitz/Werkleitz. Milde lächelt Willy Brandt vom großen Wahlplakat herab. Der Slogan über seinem Konterfei brennt fast in den Augen: "Deutsche – wir können stolz sein auf unser Land! Wählt Willy Brandt!"
Martin Conrath und Marion Kreißler bemächtigen sich mit den flächendeckend geklebten Wahlplakaten des Außenraums der beschaulichen Gemeinde: Ihre Installation reproduziert historische Wahlpropaganda aus Ost und West und ergänzt sie durch riesige Banner mit absurden Slogans, zusammengesetzt aus Fragmenten aktueller Wahlkampfsprüche: "Verantwortungsgemeinschaft für die Zukunft: Ihre Freiheit ist unsere Niederlage!"
Tornitz/Werkleitz wird wieder zum Schauplatz künstlerischer Interventionen. Zum fünften Mal bereits findet Anfang August die Werkleitz-Biennale für Medienkunst statt. Heimatverein und Traktorenstützpunkt, Kirche und Sporthalle werden zur exotischen Ausstellungsfläche für Künstler. Der Ausstellungsparcours als Herzstück des internationalen Festivals besetzt nahezu den gesamten öffentlichen Raum beider Dörfer mit Installationen, Fotoarbeiten und multimedialen Skulpturen.
Im Bürgerzentrum zum Beispiel bietet "Lost Nation" (Herman Asselberghs/Dieter Lesage) eine lounge-artige Bibliothek voller schicker Bildbände über nicht mehr existierende Nationalstaaten wie die DDR. Der Festsaal der "Gaststätte zur Post" dagegen avanciert zum Kunst-Kino: Hier wird das umfangreiche und prominent besetzte Film- und Videoprogramm gezeigt, dabei auch der Film "Lola + Bilidikid" von Kutlug Ataman über türkische Homosexuelle in Berlin und "Whity" von Fassbinder.
Die Kuratoren haben das Festival in diesem Jahr unter das Thema der "Zugewinngemeinschaft" gestellt und formulieren damit die Kritik an einer Gesellschaft, die in erster Linie auf Profit orientiert ist und den Umgang mit dem "Anderen" zumeist als Belastung empfindet. Die Mechanismen sozialer Ausgrenzung, sowohl in der "großen Politik" als auch im menschlichen Umgang miteinander, sind der Untersuchungsraum dieses Festivals.
Einen sehr anschaulichen Zugang bietet Sebastian Schädlers "Schneewittchen"-Performance: Schädler präsentiert verschiedene Versionen des Märchens aus unterschiedlichen Ländern. Schneewittchen muss darin jeweils andere Bedingungen erfüllen, um weiter an der Welt der Zwerge teilhaben zu dürfen. Während es in Westdeutschland eine gütige Dame sein kann, muss es in der DDR als Kindergärtnerin und in der Türkei als Putzfrau arbeiten. So kennt jeder seine Rolle in der Gesellschaft – bereits von Kindesbeinen an...

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