Freitag 33, 09.08.02
Offene Grenzen - Die Werkleitz-Biennale in Sachsen-Anhalt
von Ingo Arend
Deutsche, wir können stolz sein auf unser Land". Das SPD-Motto im
Bundestagswahlkampf von 1972 war scheußlich patriotisch. Doch Willy
Brandt gewann damit. Seine Partei war in einer schier aussichtslosen
Lage. Ohne parlamentarische Mehrheit, gegen Korruptionsvorwürfe und den
Bild-Zeitungs-Bannfluch: Vaterlandsverräter! konnte der damalige
SPD-Vorsitzende seine Entspannungspolitik durchsetzen. Es gehörte zur
Dialektik eines der großen Reformprojekte in der Bundesrepublik, dass es
die Öffnung der Grenzen nach Osteuropa mit einer Abschließung erkaufte.
Zu Beginn des selben Jahres setzte Brandt den Radikalenerlaß durch.
Kommunisten durften keine Briefe mehr austragen. Wer sich nach außen
öffnen will, muss innen stabil bleiben, hatte der Kanzler dem Rest des
argwöhnischen Westens sagen wollen.
Eigentlich sollte das SPD-Plakat
von 1972 mit dem pausbäckigen Brandt, das die Künstler Martin Conrath
und Marion Kreißler für fünf kurze Tage in die kleinen Dorfflecken Tornitz
und Werkleitz gehängt haben, zeigen, wie absurd politische
Wahlkampfparolen sind. Aber plötzlich fühlte man sich in einer Zeitreise
zurück, wenn man dieses Museumsstück neben Herrn Erik Hunker an den
Laternenpfählen der 600-Seelen-Gemeinden zwischen Magdeburg und
Dessau hängen sah. Der preist, mit einem ähnlich weltoffenen Gesicht wie
weiland Willy Brandt das "Modell Deutschland", seine Heimat. In der
abgeschiedenen Ecke Sachsen-Anhalts wo sich zwischen Weizen- und
Rübenfeldern Elbe und Saale Gute Nacht sagen, sind nämlich am
kommenden Sonntag Landratswahlen.
Was lag näher nach 1989, als den
grenzstürzenden Epochenbruch wörtlich zu nehmen und in den Raum
vorzustoßen, der lange unerreichbar und geschlossen schien? Das sagten
sich drei Braunschweiger Kunsthochschulabsolventen, als sie 1993 in der
Einöde des ehemaligen Ostens ein ziemlich avantgardistisches
Medienkunstfestival gründeten. Endlich offener Raum! Zwar suggerierten
die belgischen Künstler Hermann Asselberghs und Dieter Lesage mit ihrer
Sammlung alter Reiseführer, die sie für die fünfte Ausgabe der
Werkleitz-Biennale in das kleine Bürgerzentrum von Tornitz gelegt hatten,
dass mit den Lost Nations von Jugoslawien bis Zaire der Nationalstaat
auch verschwinden kann. Reise nach Timbuktu heisst eine Ausstellung
des offiziüsen Instituts für Auslandsbeziehungen (ifa) in Berlin. Mit dem
magischen Sehnsuchtsort beschwört sie einmal mehr das "nomadische
Lebensgefühl" permanenter Grenzüberschreitung, das bei Künstlern derzeit
hoch im Kurs steht. Esteban Alvarez und Tamara Stuby haben über zwei
Flugzeugsessel zwei Uhren mit unterschiedlichen Zeiten gehüngt - Symbol
für den Spielraum zwischen der Zeit und den Kontinenten.
Doch nicht jeder
kann in diesem Durchgangsraum ungehindert Platz nehmen. Im "global
village" Tornitz präsentiert der Heimatverein neben ein paar alten Sensen
und Spinnrädern auf dem neu eingerichteten "Heimathof" auch das Bild des
Kriegervereins, der nach dem I.WK den "Kampf gegen 31 Völker der Welt"
bejubelt. Und von den Lebensbedingungen von Asylanten in der deutschen
Provinz bis zu dem ersten Opfer des rassistischen Mobs nach dem Fall
der Mauer, Amadeu Antonio, sahen die 40 internationalen Künstler, die ihre
Arbeiten zwischen Traktorstation und altem Konsum platziert hatten, auch
eher neue Grenzen. Freilich tappen die Biennalisten selbst in die
Ausgrenzungsfalle, wenn sie ihre politische Forderung nach "Offenen
Grenzen" mit der Marketingformel "documenta des Ostens" garnieren.
"Wir
gehen unseren deutschen Weg." Dreißig Jahre später klingt das Motto der
SPD im Bundestagswahlkampf 2002 wieder scheußlich patriotisch. Die
Entspannungspolitik, die der Afghanistan-Krieger Schröder plötzlich wieder
entdeckt hat, braucht immer noch diese Rückversicherung. "Frieden unter
den Völkern" klingt halt so furchtbar kompromittiert. In Tornitz erinnert ein
Bild des steifen Erich Honecker neben der bunten Angela Davis von den
Weltfestspielen der Jugend 1973 an diese große Utopie. Doch einen
"dritten Weg" zwischen dem staatssozialistischen Internationalismus und
der heimatverzehrenden Globalisierung findet Schröder in seiner
Schicksalswahl nicht. Nicht jeder Deutsche ist so weit wie Gülen K. Unter
einer Frisierhaube in der Installation des Kreuzberg-Museums für Tornitz
vertraute die 1979 in Berlin geborene Türkin dem Zuhörer ihre
Lebensgeschichte an. Ihre deutsche Heimat und ihre türkische Herkunft
sieht sie nicht als Gegensatz. Sie sei, sagt sie, "in beiden Welten
gleichzeitig". www. werkleitz.de www.ifa.de/a/a2/da2timbu.htm
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